DiRiSo Gedanken zur Legal Technology

Seit Gründung 2017 konzentrieren wir uns bei DiRiSo bewusst auf unser operatives Geschäft und treten ansonsten öffentlich kaum in Erscheinung. Wie jedes Unternehmen haben wir uns bei unserer Gründung aber die Zeit genommen, den Standort unseres Geschäftsmodells innerhalb des uns umgebenden Marktes gründlich zu verorten. Die damit einhergehenden Branchenbetrachtungen haben wir damals zum Teil in unserem Blog Legal.Technically veröffentlicht. Diesen haben wir zwar letztlich 2019 eingestellt, weil er als Kommunikationskanal für unseren Geschäftsbetrieb entbehrlich geworden ist.

Einige ausgewählte Artikel aus unserer Gründerzeit haben wir aber dennoch aufgehoben und stellen sie hier weiterhin zur Verfügung. Obwohl sie schon vor Jahren verfasst wurden, vermitteln sie doch nach wie vor einen guten Eindruck davon, was uns damals zur Gründung bewogen hat und mit welchem Selbst- und Branchenverständnis wir unsere Entwicklung begonnen haben.

Beitrag 1 – September 2017 – Legal Tech Szene: Vom Nerdtreff zur Großkanzlei-Soiree

Die Legal Tech Szene früher

Es ist schon einige Jahre her, seit ich das erste Mal einen Juristen mit dem konfrontiert habe, was inzwischen einen festen Glaubenssatz der Legal Tech Szene bildet. „Im Prinzip ist bereits eine Excel-Tabelle imstande, eine Subsumtion mit größerer Akkuratesse zu vollführen als jeder Anwalt mit Doppelprädikat!“ Das sagte ich damals 2012 und die Reaktion meines Gegenübers war – freundlich ausgedrückt – ungläubig.

Eigentlich wollte ich den guten Herrn damals lediglich an einer schlichten Beobachtung teilhaben lassen. Er hingegen begriff die beiläufige Bemerkung als ketzerischen Angriff auf seine zentralsten Lebensgewissheiten: Dass er im Gegensatz zu zotteligen Informatik-Nerds einen anständigen Studiengang gewählt hat. Dass stumpfes Auswendiglernen fürs juristische Staatsexamen jemanden zu einer hochqualifizierten Fachkraft macht (und obendrein zu einem besseren Menschen). Dass die Arbeit von Juristen unersetzlich ist, zumal ihre überragende Methodologie der vier Auslegungscanones eine Art Universalbegabung darstellt. Dass 250 € pro Stunde hierfür doch ein mehr als fairer Preis sind. Und natürlich: dass IT primär etwas für bildschirmgebräunte EDV-Support-Knappen ist, die einem das standesgemäße Macbook aufsetzen.

Wenig verwunderlich empfand der Jurist es damals als kränkend, als ich seine Tätigkeit mit der einer Excel-Tabelle verglich. Also schloss er messerscharf, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Und bezeichnete die damals noch nicht so benannte Legal Technology als Spielerei, Zukunftsmusik und das Geisteskind von jemandem, der so naiv sei, einzigartig maßgeschneiderte Verträge und Gutachten aus vorhandenen Textbausteinen für reproduzierbare Massenprodukte zu halten.

Dergleichen wurde mir häufig erwidert, wenn ich es seitdem wagte, auf die Leistungsfähigkeit von Excel-Tabellen hinzuweisen. Insofern hatte ich mich schon damit abgefunden, dass bei Anwälten erst ein Sinneswandel einsetzt, sobald ihre Mandanten keine 50 €, geschweige denn 250 € pro Stunde mehr für eine Tätigkeit zahlen, die eine Software für einen Stundensatz von 0 € (zuzüglich Lizenzgebühren) erledigt. Erst in diesem Moment wird sich vermutlich ein Großteil der Rechtsdienstleister eingestehen, dass die Digitalisierung nicht bloß die ganze restliche Wirtschaft betrifft, sondern – oh Wunder – selbst Anwälte, weil auch ihre Leistung wenigstens partiell automatisierbar ist.

Die Legal Tech Szene heute

Nichtsdestotrotz teilen inzwischen nicht wenige Juristen den eingangs erwähnten Glaubenssatz. Und es sind weit mehr, als ich ursprünglich in der Frühphase der Legal Technology für möglich gehalten hätte. Man kann sogar sagen, Legal Technology wird salonfähig. Im wahrsten Sinne des Wortes. So ist es beispielsweise in Hamburg seit 2016 die renommierte Großkanzlei Hogan Lovells, die auf ihrer geschmackvollen Konferenzetage mit Alsterblick zum Legal Tech Meetup lädt. Ende Juli fand das Event nun schon zum dritten Mal statt – mit beachtlicher Resonanz. Daran ließen die restlos gefüllten Zuschauerreihen plus Warteliste keinen Zweifel.

Man stellt also durchaus fest, dass das Thema nun wenigstens in einigen juristischen Herzkammern Deutschlands angekommen ist. Die Legal Tech Szene feiert keine LAN-Parties im Gemeinschaftsbüro Coworking Space mehr. Sie feiert durchaus in Rooftop-Lounges prestigeträchtiger Kanzleien mit Sinn für Buffetkultur. Weit spannender aber ist die Frage, was das eigentlich bedeutet. Konkreter: Welche Handlungsimplikationen haben solche hippen Meetups? Tut sich etwas in der Arbeitsweise unserer Doppelprädikatselite? Wird inzwischen weniger Zeit ins Copy&Pasten von Textbausteinen investiert und mehr in die Entwicklung juristischer Algorithmen?

Nun ja. Abschließend beurteilen lässt sich das freilich nicht, weil wir nicht pauschal bewerten können, was sich kanzleiintern Gutes tut, ohne dass jemand darüber spricht. Aber zumindest dort, wo inzwischen Gutes über Legal Tech gesprochen wird, hat man den Eindruck, etliche hätten die Stufe des guten Tuns flugs übersprungen, um zumindest in Gesprächen mitreden zu können und weitsichtig zu wirken. „Natürlich ist Legal Tech für uns ein großes Thema“, versichert der Senior Partner beim Bewerbungsgespräch gerne jedem IT-affinen Associate-Aspiranten (, solange der die nötigen Noten mitbringt und anstandslos 70 Stunden die Woche buckelt). Die Realität sieht dann vermutlich so aus, dass der neue Mitarbeiter eher die M&A-Deals für Google und IBM betreuen darf oder bestenfalls auf Datenschutz-Schulungen geschickt wird. Ist doch schließlich auch irgendwas mit IT und Internet.

Ich überspitze natürlich ein wenig. Tatsache ist aber, dass

  1. zwar die allermeisten Branchenangehörigen, die dazu einen Kommentar abgeben dürfen, pflichtschuldig die hohe Relevanz der Legal Technology betonen.
  2. gleichzeitig aber die Digitalisierung derselben Branche seit Hoffähigkeit der Legal Tech Szene nicht nennenswert schneller voranschreitet als vorher.

In der Legal Tech Szene gab und gibt es eine Reihe von Unternehmern, deren Geschäftsmodell Erfolgsaussicht hat. Einzelne Akteure haben sogar Disruptionspotenzial. Und je weiter sie voranschreiten, desto spürbarer der Effekt der verwendeten Legal Technology. Siehe Fluggastentschädigungsportale. Als zunächst 2010 Flightright eine Website ins Netz stellte, steckte dahinter kein komplexer Algorithmus, der in Rückanbindung an Fluggastdatenbanken automatisiert binnen weniger Minuten Formulareingaben analysierte, das Bestehen eines Anspruchs prüfte und eine direkte Beauftragung anbot. Anfangs mussten die Angaben eines Nutzers noch vollständig manuell ausgewertet werden. Das Webformular ersetzte damals lediglich ein Printformular, ohne dass eine Sofortware vollautomatisch die Eingaben verarbeitete. Dass es demgegenüber heute so einfach funktioniert, eine Fluggastentschädigungen zu beanspruchen, ist der graduellen Entwicklung der letzten Jahre zu verdanken. Und auch heute verfügen unter allen Anbietern nur ganz wenige Flightright und Ersatz-Pilot über Webtools zur vollautomatisierten Prüfung und Durchsetzung von Fluggastrechten.

Dabei muss man bedenken, dass die IT-Infrastruktur im Reiserecht schon besonders ausgeprägt ist. Vergleichbare Online-Dienstleistungen zur Rückabwicklung von Lebensversicherungen und Verbraucherkrediten verlangen über weite Strecken noch immer nach einer manuellen Bearbeitung der Formulareingaben. Ähnliches gilt für Schadensersatzforderungen bei Unfällen und Rechtsbehelfen gegen Bußgeld- oder Hartz-IV-Bescheiden. Bei alledem verzeichne ich keinen nennenswerten Schub in der Entwicklung seit 2015. In Anbetracht des graduellen Fortschritts fehlen mir für einen Sprung oder gar eine exponentielle Kurve schlicht die Anhaltspunkte.

Exponentiell ist einzig die erweiterte Legal Tech Szene angewachsen. Und damit meine ich nicht einmal den Kreis aller selbsternannten Legal Tech Unternehmer, der zwar wächst, aber keineswegs in Potenz. Das scheitert daran, dass bereits das Geschäftsmodell den Erfolg vieler Startups strukturell vereitelt, sodass sie mittelfristig wieder vom Markt verschwinden. Wenn ich von einer sprungartig wachsenden Legal Tech Szene rede, fasse ich den Begriff weit. Zur Legal Tech Szene zählt bereits, wen Legal Tech näher interessiert. Also im Allgemeinen alle, die gut auf die Potenziale der Legal Technology zu sprechen sind, und im Besonderen die Eventgänger.

Die Legal Tech Szene künftig?

Es mag sein und wäre zu hoffen, dass sich diese Begeisterungswelle in zusätzliche Gründer und Legal Engineers übersetzt. Gebraucht werden sie alle Male, um bahnbrechenden Legal Tech Innovationen wie Smart Contracts tatsächlich zur Marktreife zu verhelfen. Instinktiv wirkt es auf mich bisher aber so, als sei ein Gutteil der Neuankömmlinge in der Legal Tech Szene an der Branche nicht zwangsläufig wegen der Arbeitsherausforderungen interessiert, sondern eher, weil das soziale Drumherum allmählich en vogue wird.

Insofern genießen wir zwar für den Moment den flüchtigen Glamour der Legal Tech Szene, konzentrieren uns aber ansonsten aufs Kerngeschäft.

 

Beitrag 2 – Oktober 2017 – Was ist eigentlich ein Legal Tech Startup?

Begriffe zu klären und beispielsweise ein Legal Tech Startup zu definieren, ist grundsätzlich keine Aufgabe dieses Blogs. Hierfür leisten Enzyklopädien wie die Wikipedia meist schon hervorragende Arbeit. Jedenfalls, wenn es um die Denotation eines Begriffs geht. Problematisch wird es nur, wenn die Konnotation Überhand nimmt. Doch genau das ist bei dem Label „Legal Tech Startup“ allmählich der Fall. Aber der Reihe nach.

Die Denotation

Wikipedia definiert ein Startup als „ein junges Unternehmen (…) , das vor allem durch zwei Besonderheiten gekennzeichnet wird: Es hat eine innovative Geschäftsidee bzw. Problemlösung – und die Unternehmensgründung erfolgt mit dem Ziel, stark zu wachsen und einen hohen Wert zu erreichen. Die Finanzierung wird dabei häufig wegen der Risiken nicht über klassische Banken organisiert, sondern über Förderbanken und innovative Finanzierungsformen wie etwa Venture- und Seed-Kapital und Crowdfunding.“

Wenn wir den Finanzierungsaspekt einmal ausblenden, dann ist zum Beispiel DiRiSo nach dieser Begriffsbestimmung ein Startup. Da DiRiSo Legal Tech Produkte anbietet, genauer gesagt ein Legal Tech Startup. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man mit der Definition der Plattform Gründerszene, zumal sie keine spezifische Finanzierungsart voraussetzt.

Was konnotiert der Begriff Legal Tech Startup?

Der Erklärungsansatz von Gründerszene lässt jedoch gleichzeitig durchscheinen, weshalb die Einordnung als Legal Tech Startup dennoch schwerfällt, selbst wenn die Denotation des Begriffs exakt auf ein Unternehmen zutrifft. So heißt es auf dem Portal: „Denkt man an ein Startup, existiert bei vielen das klischeehafte Bild im Kopf, wie potenzielle Gründer ihre großartigen Ideen während Nachtschichten in unauffälligen Garagen entwickeln, um sie anschließend auf den Markt zu bringen.“ Hier beginnt dann bereits die Konnotation des Begriffs Legal Tech Startup. Oder besser: Hier begann sie.

Failure Culture

Wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, mobilisierte man das positive Bild der Garagentüftler Gates, Jobs & Co. in Deutschland zunächst in der New Economy Zeit in großem Stil. Das ergab damals durchaus Sinn, waren deutsche Startups doch bis dahin wahlweise nicht-existent oder noch unter dem medialen Radar. Was man hierzulande über Startups wusste, kannte man also aus dem Ausland (lies: USA). Und da die Geschichte typischerweise von den Siegern geschrieben wird, wusste man von Microsoft, Apple, Google und Amazon, nicht hingegen von der Legion schon damals gescheiterter Startups. Wer sich als Startup bezeichnete, konnte sich daher anfangs glaubhaft in die Traditionslinie von Gates, Page und Musk stellen.

Auch seit sich in Deutschland eine eigene Startup-Szene etabliert hat, liest man weitaus seltener von Pleiten als von Neugründungen. Aber das allein genügt, damit sich die öffentliche Wahrnehmung zu Startups nach meinem Empfinden anfängt zu drehen. Auf 100 Berichte zu Gründungen kommt im Folgejahr nur noch ein Bruchteil von Erfolgsberichten. Was mit den nicht erneut genannten Unternehmen passiert, kann man sich denken. Der Comedian Harry G brachte das Phänomen im vergangenen Jahr auf die Formel: „95 Prozent aller Startups san ein riesen Schei*dreck!“

Phrasendrescherei

Und nicht nur die Aura einer Tendenz zur Erfolglosigkeit umgibt inzwischen den Begriff Startup bzw. Legal Tech Startup. Auch die Wunderwaffen der Startup-Kultur lösen bei den meisten Betrachtern eher Kopfschütteln aus. Da ist zum einen der Hang zur Überhöhung vermeintlich innovativer, tatsächlich alteingesessener Modelle. Ein Pausenraum bleibt ein Pausenraum, auch wenn man ihn Break-Out-Room nennt. Ein Gemeinschaftsbüro verleiht den Insassen keine magischen Produktivkräfte, selbst wenn man es euphemistisch als Co-Working-Space tituliert. Die Bezeichnung Business Plan macht ein Unternehmenskonzept nicht schon wegen seiner Überschrift innovativer. Ein CEO ist nicht per se ein besserer Geschäftsführer. Und je mehr das dem Publikum auffällt, desto mehr blättert der Lack von den Anglizismen ab.

Voodoo als Form der Unternehmensführung

Ob aus Mut der Verzweiflung oder aus Experimentierfreude neigen Startups zudem zu unkonventionellen Arbeitsweisen, besser: zu kultähnlichen Handlungen bei der Arbeitsbewältigung. Nicht gemeint sind harmlose Beispiele wie der semi-fakultative Yoga-Kurs in der Pause als Zwangsmaßnahme zur Entspannung. Ich denke eher an Seminare zur „Fortbildung“ mit Gemeinplatz-Vorträgen obskurer Business-Coaches und kollektiven Happenings inklusive rhythmischer Trommeleinlagen der Belegschaft. Das ist – hoffe ich – eine Extremform. Weiter verbreitet dürften hingegen beispielsweise Brainstorming-Übungen sein, bei denen zwanzig Mitarbeiter einen Tag lang im Stuhlkreis sitzen und Ideen an Flipcharts pinnen. Was sich im ersten Moment spaßig anhört, steht in keinem Verhältnis zu den Kosten. Der Kunde oder das Firmenkonto wird begeistert sein, wenn für ein paar zusammengetragene Bullet Points 20×8 zu bezahlende Arbeitsstunden ins Kontor schlagen. Alternativ kann man die Kosten natürlich den Mitarbeitern aufbürden, indem man sie hierzu zu einem unvergüteten Wochenendsseminar bittet.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Aber wenn mir solche Konzepte als wegweisend präsentiert werden, habe ich immer eine gewisse Assoziation. Der Verschwörungstheoretiker Axel Stoll wurde bekannt durch seine unfreiwillig komische Sentenz: „Chemie ist Physik. Biologie ist Physik. Magie ist Physik durch Wollen.“ Für mich klingen Stuhlkreis, rhythmisches Trommeln und Flipcharts angelehnt daran immer sehr nach „Ökonomie durch Wollen“. Dabei will ich gar nicht ausschließen, dass es Unternehmen gibt, die solche Methoden durchaus erfolgreich anwenden. Aber in der überwiegenden Zahl der Fälle haben wir es doch bestenfalls mit einem Drittvariableneffekt zu tun. Selbst wenn ein Unternehmen mit Startup-Kult Erfolg hat, dann beruht er vermutlich auf den Überstunden nach der innovativen Ideenfindung, dem teambildenden Kickermatch oder dem monatlichen World Cáfe.

Legal Tech Startup ohne Konnotation?

Diese Negativaspekte der Startup-Szene sind natürlich unproblematisch, solange ein Legal Tech Startup zu benennen ist, was auch solche Merkmale aufweist. Schwieriger wird es bei Unternehmen wie DiRiSo, die der Definition nach als Legal Tech Startup gelten, sich von der konnotierten Kultur aber distanzieren. Sicherlich wird man hier immer noch im weiteren Sinne von einem Startup sprechen können. Adäquater scheint aber eine neue Begriffsprägung. Zumindest auf diesem Blog möchten wir deshalb auf die Bezeichnung „Legal Tech Unternehmen“ zurückgreifen, um DiRiSo & Co. zu beschreiben. Denn die Legal Technology verspricht schon ihrer Grundidee nach hohe Wachstumspotenziale und ihre Branche ist ohnehin so jung, sodass man begrifflich nicht gesondert darauf hinweisen muss. Mithin zerfällt die Legal Tech Szene gemäß unserer Begriffswahl in hippe Legal Tech Startups und Legal Tech Unternehmen mit einer traditionelleren Geschäftskultur. Man könnte auch sagen, mit Old Economy Tugenden in einem New Economy Geschäftsmodell.

  

Beitrag 3 – Oktober 2017 – Legal Engineer: Zukunftsberuf oder Schimäre?

Jede Bewegung kultiviert ihre Idealtypen und für die Legal Tech Szene gehört dazu das Berufsbild Legal Engineer. Als Legal Engineer definiert sie dabei Juristen, die zusätzlich zu ihrer klassischen Ausbildung IT-Kenntnisse besitzen. Sie sind daher qualifiziert, an der Schnittstelle zwischen beiden Fachbereichen zu arbeiten und etwa an Automatisierungsprozessen mitzuwirken. Sie sollen in Zukunft das Scharnier formen zwischen Rechtsdienstleistern einerseits und Informatikern andererseits.

Automatisierung heute: ohne Legal Engineer

Ich sage „in Zukunft“, weil in den Sternen steht, ob sich der Legal Engineer tatsächlich einmal zwischen Jurist und ITler schiebt. Es ist nämlich so: Bisweilen automatisiert sich der Rechtsmarkt, ohne dass juristische Endanwender und ITler Seite an Seite arbeiten. Verbreitet ist es eher, dass ein Jurist bei einem externen IT-Unternehmen für seine Tätigkeit ein Programm bzw. eine Lizenz nachfragt. An der Spitze dieses Unternehmens steht dann im günstigeren Fall ein Jurist, der eine vage Ahnung davon hat, welche Technik praktizierenden Anwälten weiterhilft und wie man sie entwickelt. So funktioniert das zum Beispiel bei RA-Micro.

Ein Schwerpunkt auf Rechtsdienstleistungen oder eine Expertise in Informatik ist aber keineswegs conditio sine qua non, wenn Softwareentwickler im Rechtsmarkt tätig werden. Wenn ich mir die Low Tech Entschädigungsrechner mancher Fluggastportale ansehe, gewinne ich eher den Eindruck, dass dahinter eine von zwei ähnlich kruden Entwicklungsvarianten steht. Entweder die Gründer-Juristen haben mit ihren Hobby-IT-Fähigkeiten ihre Abfragemechanismen selbst gebastelt. Oder sie haben ein externes Unternehmen damit beauftragt und ein mehr oder weniger passendes Produkt bekommen. Also ein Produkt, von dem der juristisch ungeschulte Informatiker denkt, es könnte dem Juristen helfen.

Woran mache ich fest, dass es so läuft? An den ganzen Unstimmigkeiten ihrer Tools, die Juristen im laufenden Betrieb sehen und ITler leicht ausbessern können. Dass das trotzdem nicht passiert, liegt entweder daran, dass Juristen zwar die Probleme erkennen, aber unfähig sind, sie selbst zu korrigieren. Alternativ erklärt sich das Phänomen daraus, dass ständige Change Requests an externe Informatiker natürlich sehr teuer werden, wenn ihnen das juristische Grundverständnis für die Anforderungen fehlt, denen ein Tool genügen muss.

Automatisierung künftig 

ohne Legal Engineer?

Solange man aber überwiegend trotzdem meint, solche Kooperationsformen zwischen Juristen und Informatikern reichen, wird kaum einer nach einem Legal Engineer als Mittelsmann fragen. Und selbst wo man glaubt, Juristen und ITler sollten laufend Hand in Hand zusammenarbeiten, fehlt das Bedürfnis nach einem Dritten.

Es genügt vollkommen, wenn ein Informatiker genug vom zu lösenden Problem und ein Anwalt genug von den technischen Mitteln zur Lösung versteht. Ein Dolmetscher wird nicht gebraucht. Aus grenzüberschreitenden Wirtschaftsbeziehungen kennt man das schon. Wo für alle Geschäftspartner Englisch die lingua franca ist, kann man sich den Übersetzer sparen.

Auf Kanzleien bezogen heißt das zum Beispiel, dass im Idealfall der Nutzer einer Prüfungssoftware diese bilateral mit dem Programmierer optimiert. Aber kann er das einfach so? Müsste er dafür nicht Informatik studieren? Hier empfiehlt sich ein unverstellter Blick. Denn wenn ein Jurist ein bisschen technisch versiert ist, wird ihm eine solche Kooperation ohne weiteres gelingen. Dafür braucht ein Anwalt nicht einmal irgendwelche praxisfernen Anfängerkurse in (veralteten) Computersprachen. Es reicht bereits das Gespür dafür, welche seiner Arbeitsschritte schematisierbar sind und welchem Schema sie folgen.

oder ohne Anwalt?

Sicher mag man eine solche Person hochtrabend nicht mehr als Jurist, sondern als Legal Engineer bezeichnen. Eine Scharnierfunktion hat sie indes nicht mehr. Schließlich ist ein separater Anwalt neben dem Legal Engineer allenfalls eine vorübergehende Erscheinung. Denn warum sollte der Legal Engineer sein Tool dauerhaft Anwälten zur Verfügung stellen, wenn er es auch selbst bedienen kann. Immerhin spart das Support-Hotlines, Schulungskurse und zudem Marketingaufwand, um einer notorisch technikfernen Branche begreiflich zu machen, wie sie von einem Tool profitieren kann.

Früher oder später wird dem Legal Engineer dämmern, dass er die Tätigkeit des Anwalts auch direkt übernehmen und gegenüber dessen Mandanten anbieten kann. Und wenn der Anwalt clever ist, dann wird auch er merken, dass er direkt mit IT-Entwicklern zusammenarbeiten kann, statt dazwischen einen Legal Engineer einzuschalten. Das Ergebnis ist so oder so ein Engineering Lawyer, weniger ein Legal Engineer. Ersteres scheint mir eher ein tatsächlicher Zukunftsberuf zu sein.

Beitrag 4 – November 2017 – Legal Technology: der wilde Westen der digitalisierten Welt

Ich vergleiche den Boom der Legal Technology gern mit der New Economy Blase. Das klingt zum Beispiel im Artikel über die Definition eines Legal Tech Startups an. Ich tue das, weil die meisten Legal Technology Startups denen der New Economy in etlichen Punkten ähneln. Sie werden ähnlich umjubelt, preschen auf ähnlich neuartige Geschäftsfelder vor und gehen – so meine Vorhersage – ähnlich häufig pleite.

Legal Technology als Spätgeburt der New Economy

Die Geschichte scheint sich zu wiederholen. Präziser: Die Juristen durchleben gerade eine Entwicklung, wie sie sich in anderen Branchen längst vollzogen hat. Im Grunde genommen hätten sie schon vor 15 Jahren das Schicksal der E-Commerce-Pioniere teilen können. Aber die technophobe Juristenkaste hat sich damals einfach noch nicht ins Neuland bequemt.

Sie musste schließlich auch nicht. Während sich seit 1990 bis heute die Zahl der Anwälte verdreifachte, verdreifachte sich zwar nicht gleichzeitig der Bedarf an Rechtsberatung. Das musste er aber auch nicht. Zumindest waren Leidensdruck und Unternehmergeist unter Juristen nie so groß wie bei jenen Gründern, die in der Zwischenzeit das Auskunftswesen, den Einzelhandel, die soziale Interaktion und viele weitere Wirtschafts- und Gesellschaftsbereiche ins Internet verlegten.

Statt an Legal Technology zu denken, hatte der Jurist an solchen Umwälzungen dergestalt teil, dass er die Gesellschaftsverträge schrieb, Investitionsrunden und Fusionen rechtlich gestaltete, Haftungsrisiken minimierte und – wo New Economy Unternehmen trotzdem scheiterten – den Scherbenhaufen zusammenkehrte und die Insolvenzmasse verwaltete. Doch statt genau so weiterzumachen und alsbald in den Gründungsdokumenten neuer Google-Töchter als Unternehmensgegenstand die Umwälzung des Rechtsmarktes einzutragen, trauen sich einige Juristen diesen Schritt nun doch noch selbst zu. Gerade noch rechtzeitig, möchte man meinen, ehe Technologiegiganten von sich aus beginnen, das rechtspflegende Geschäftsfeld umzupflügen.

Alles schon dagewesen?

Juristen folgen mit ihrer späten Hinwendung zur IT letztlich in die Fußstapfen der anderen Branchen. Und doch ist genau deswegen etwas anders. Die Legal Technology ist so spät dran, dass sie gute Chancen darauf hat, den Schlussstein der Digitalisierung zu bilden. Ihre Kultivierung gleicht – bildlich gesprochen – nicht der Kultivierung der Appalachen, des Deep South und anderer Zwischenstationen in der Besiedlung der vereinigten Staaten. Einzig die Great Plains und die Pazifikküste liegen weit genug westlich bzw. in ihrer Konsolidierung als US-Gliedstaaten spät genug.

Mit ihnen teilt die Legal Technology als Teil der digitalen Wirtschaft das Schicksal einer allmählich erschlossenen Grenzregion (Frontier). Das Ungefügte einer solchen unbebauten Scholle Land dürfte maßgeblich zur Goldgräberstimmung oder wenigstens zur Aussicht auf eigenes Grundeigentum beigetragen haben. Leitideen wie der rugged individualism und in gewisser Hinsicht auch der amerikanische Traum verdanken solchen Phänomenen ein Stück weit ihre materielle Basis.

Und ganz ähnlich, so mein Eindruck, verhält es sich jetzt wieder mit der Legal Technology. Ihre Geschäftsmodelle sind eine der letzten Chancen für aufgeweckte Köpfe, sich in der digitalen Wirtschaft etwas Eigenständiges aufzubauen. Eine andere Facette des amerikanischen Traums ist sicherlich der Aufstieg vom Tellerwäscher zum Millionär. Und in der Tat will uns ein Propagandafilm Comedy-Film wie The Intership Glauben machen, man könne diese Karriere auch heute mit harter Arbeit und etwas Kreativität als Aspirant bei Google nachvollziehen, statt 80 Stunden Wochen zu schrubben, ohne auch nur in Sichtweite von Larry Page zu kommen.

Nach Westen geht Justitias Weg

Aber trotzdem würde ich schätzen, dass es empirisch häufiger ein Farmer in Nebraska mit harter Arbeit zu eigenem Grund und Boden gebracht hat, als ein vermögensloser New Yorker zu einem Immobilien-Mogul. Genau so würde ich darauf setzen, dass heutzutage mehr Juristen Legal Technology Unternehmen zum Erfolg führen, als irgendwann in die engste Führungsriege einer Großkanzlei vordringen. Dr. Bues musste den Legal Tech Blog betreiben, um CEO von Leverton zu werden. Für die Geschäftsführung von Amazon würde Vergleichbares vermutlich nicht reichen. Es wird nicht zuletzt ein derartiger Gedanke gewesen sein, der den Goldrausch in Kalifornien mehr beflügelt hat als die Arbeit in Carnegies Stahlwerken.

Aber zu diesem Goldrausch gehört eben zugleich eine bittere Wahrheit und die gilt ähnlich für die Legal Technology. Auch wenn sich Mühe und Unternehmergeist manchmal auszahlen, gehen die meisten Goldgräber doch leer aus, wenn sich das Fenster schließt. Und das Fenster schließt sich schnell. Zwar dominiert bislang kein Unternehmen die Legal Technology so sehr, dass neuen Mitbewerbern ohne Startkapital der Markteintritt versperrt ist. Auch die erfolgreichsten Akteure beschäftigen bestenfalls einige hundert Mitarbeiter. Meist thematisieren Erfolgsstories eher Teams von einigen Dutzend Juristen und ITlern.

Aber schon diese Zwischenschritte machen deutlich: Wir bewegen uns weg von einzelnen Goldschürfern und hin zur Goldmine. Noch wird es etwas dauern, bis die erfolgreicheren Goldminen im großen Stil die verbleibenden Schürfrechte kaufen und den Ich-AG Goldgräber vollends verdrängen. Aber schon jetzt ist die Zeit vorbei, wo die Karten einigermaßen fair gemischt werden, solange man nur früh genug dazukommt.

Sicherlich bietet die Legal Technology bislang noch immer jedem theoretisch die Chance, einen Royal Flush in die Hände zu bekommen und die Mitbewerber zu überflügeln. Noch besteht die Chance, in der schwindenden Grenzregion etwas eigenes hochzuziehen oder das entsprechende Geschäft wenigstens gewinnbringend an Google zu verkaufen. Viel Zeit lassen sollte man sich allerdings nicht.

 

Beitrag 5 – November 2018 – Legal Tech 2018: Bestandsaufnahme der deutschen Branche

Für die Digitalisierung der Rechtsdienstleistungen bewahrheitet sich zurzeit die Prognose, die noch 2017 vermutlich die wenigsten für realistisch hielten. Der Markt tritt auf der Stelle. Dass Legal Tech 2018 in Deutschland stagnieren würde, ahnten vermutlich die wenigsten in der allgemeinen Aufbruchstimmung der letzten Jahre. Wahrscheinlich würden die meisten noch nicht einmal heute zu dieser Diagnose gelangen. Aber je mehr Gespräche ich mit den Vertretern der einzelnen Anbieter von Legal Tech 2018 führe, desto mehr bestätigt sich der Befund, den ich hier schon einmal vorwegnehme.

Die meisten Unternehmen kommen über die Runden, verdauen die bisherige Expansion, wachsen moderat weiter, operieren stabil. Von Niedergang ist nicht viel zu spüren – aber eben auch nichts von revolutionären Geschäftsmodellen. Und da sich weder in die eine noch in die andere Richtung nennenswert etwas bewegt, spreche ich von Stagnation. Genau das aber ist auf den zweiten Blick ein gutes Zeichen. Denn das bedeutet, dass die Wild-West-Ära von Legal Tech 2018 und wahrscheinlich darüber hinaus noch ein Weilchen fortdauert. Zumindest für Goldgräber in spe sind das hervorragende Nachrichten.

So. Das waren genug gewagte Thesen für den Einstieg. Kommen wir zur Marktanalyse, auf die ich meine Einschätzung stütze.

Legal Tech Unternehmen heute

Im Grunde zerfällt die Branche für Legal Tech 2018 in drei gut abgrenzbare Lager. Da sind zum einen die so genannten Marktplätze, die Nutzer mit einem Rechtsproblem an Anwälte vermitteln, ohne selbst einen Beitrag zu dessen eigentlicher Lösung zu leisten. Zum anderen haben sich etliche Anbieter für Kanzleisoftware positioniert. Darüber hinaus finden sich für etliche einzelne Verbraucheransprüche Portale, die per Inkasso oder Factoring die Abwicklung übernehmen. Eine ziemlich vollständige Übersicht aller Unternehmen in den jeweiligen Sparten führt das so genannte Legal Tech Verzeichnis.

In allen genannten Bereichen steigt die Zahl der Anbieter. Und zwar in mehrerer Hinsicht. Sowohl nimmt die Zahl der Unternehmen zu, die ein bestimmtes einzelnes Rechtsproblem bearbeiten, als auch die Zahl der Rechtsprobleme, für die Abhilfe geboten wird. Bewegten sich noch 2011 beispielsweise am Markt der Fluggastportale fast nur Flightright, Fairplane und EUClaim sind bis heute mindestens einige Dutzend Konkurrenten dazugekommen. Gleichzeitig gibt es bei Weitem nicht mehr bloß im Reiserecht eine Legal Tech Lösung für Verbraucher: Um das Straßenverkehrsrecht kümmern sich diverse Anbieter wie geblitzt.de. Als Helfer im Sozialrecht hat sich vor allem rightmart einen Namen gemacht. Gegen unzulässige Mieterhöhungen und Mietnebenkostenabrechnungen kämpft zum Beispiel Mineko. Bei der Kündigung von Lebensversicherung unterstützt unter anderem helpcheck, bei der Rückabwicklung des Kaufs von Diesel-PKW myright und beim Einfordern einer Abfindung Abfindungsheld.

Was im ersten Moment wie ein kraftvolles Wachstum der Branche aussieht, erweist sich bei genauerer Betrachtung allerdings als Stagnation. Das hat mehrere Gründe:

Kontinuität, nicht Quantensprünge

Klar erkennbar ist zunächst, dass sich die Branche in gefestigten Bahnen bewegt. Es findet bestenfalls eine Skalierung statt, keine Disruption. Es kommen keine grundverschiedenen Geschäftsmodelle hinzu, es werden nur bestehende kopiert und auf weitere Rechtsprobleme gesetzt – und zwar bezeichnenderweise zunehmend auf Nischen mit weniger Umsatzpotenzial und weniger Marge.

Bestes Beispiel sind die Entwicklungen, die Legal Tech 2018 im Reiserecht vollzieht: Das neueste Angebot dürfte hier noch am ehesten darin bestehen, dass inzwischen auch Dienstleister mit Erstattungen für stornierte Tickets weiterhelfen sowie mit Bahnentschädigungen. Erstere richten sich aber weitgehend nach den Buchungsbedingungen der Airlines, die meistens nur einen Bruchteil des Ticketpreises für erstattungsfähig erklären. Dementsprechend gering sind die Beträge, die Startups wie Geld für Flug für stornierte Tickets auszahlen können.

Es mag im Übrigen auch einen Markt für Bahnentschädigungen geben, jedoch ist er ungleich kleiner als der für Fluggastentschädigung. Denn die Erstattungsansprüche und somit die möglichen Provisionen für Legal Tech Unternehmen fallen bei Bahnreisen weitaus kleiner aus als bei Flügen. Im schlimmsten Fall schuldet die Deutsche Bahn bei über zweistündiger Verspätung eine hälftige Erstattung des Ticketpreises. Selbst bei einem Fahrkartenpreis von 100 € stehen dem einzelnen Reisenden also bestenfalls 50 € zu. Der Ausgleichsanspruch bei einer Flugunregelmäßigkeit beträgt nach Art. 7 FluggastrechteVO 250-600 €, also das fünf- bis zwölffache der Bahnentschädigung. Hinzukommt, dass die FluggastrechteVO auf Flüge europaweit Anwendung findet, während Erstattungsansprüche gegen die Deutsche Bahn naturgemäß nur deutsche Zugverbindungen betreffen.

Mehr Angebot, gleiche Nachfrage

Ein weiteres Problem der aktuellen Entwicklung ist das Überangebot, auf das Legal Tech 2018 zusteuert. Nur weil inzwischen einige Dutzend Anbieter Fluggästen dabei helfen, ihre Entschädigung einzufordern, nimmt noch lange nicht die Zahl der Verspätungen zu. Stattdessen konkurriert die wachsende Zahl der Fluggastportale um eine mehr oder weniger konstante Menge an potenziellen Kunden.

Und je weiter man gemeinsam die Nachfrage deckt, desto mehr jagen sich die Konkurrenten nur noch gegenseitig Marktanteile ab, wie dies in Deutschland bei Fluggastrechten bereits der Fall zu sein scheint. Das erhöht für alle Betroffenen die Werbeausgaben, senkt die möglichen Gewinnmargen und reduziert damit zudem das Potenzial für Research & Development. Verkürzt heißt das, Legal Tech Unternehmen bringen 2018 mehr mit dem Verwalten zu als mit dem Gestalten. Das wiederum verkleinert den Spielraum für Innovationen und disruptive Geschäftsmodelle.

Dabei betrifft die Problematik des Überangebots einige Sparten noch weit schlimmer als den Markt der Fluggastrechte. Richten wir einmal den Blick auf das B2B Segment. Hier fossilieren sich die wenigen Komplettangebote für Kanzleiorganisationssoftware, während ansonsten ein Flickenteppich spezifischer Anwendung für einzelne Rechtsprobleme entsteht, der über die Nachfrage hinausschießt.

Kanzleiorganisationssoftware

Zunächst gibt es einige Komplettlösungen für Kanzleien (z.B. RAMicro) und Rechtsabteilungen (z.B. LeCare), deren Mehrwert intuitiv einleuchtet. Sie decken eine breite Funktionspalette ab, verlangen für ihr breit gefächertes SaaS-Modell eine Lizenzgebühr und tausende Kunden wissen: Wenn ich diesen einen Preis zahle, bin ich rundum ausgestattet. Wenig verwunderlich zählte derartige Software schon zum Repertoire von Legal Tech Anwendungen, bevor man sie überhaupt als Legal Tech bezeichnete. Ebenso ist davon auszugehen, dass sie weiterhin einen festen Platz im Ensemble der Legal Tech Lösungen behalten.

Disruptionspotenzial geht von entsprechenden Softwareanbietern indes nicht aus. Das hat etwas mit der Kostenstruktur zu tun und mit der (geringen) Erwartungshaltung der Kunden. Klar ist, dass Kanzleien und Rechtsabteilungen derartige Gesamtpakete auf absehbare Zeit benötigen, um das Fundament für ihre IT-Infrastruktur zu legen. Ihre Mitarbeiter nutzen die Applikationen ob ihrer vielfältigen Einsatzmöglichkeiten und ihrer zentralen Stellung in den Arbeitsprozessen täglich. Dementsprechend hoch ist der Schulungs-, Wartungs- und Supportaufwand. Potenziert wird all das durch den Umstand, dass das zentrale Vertriebsargument besagter Software ihre Vollständigkeit ist – mitsamt der störanfälligen oder sonstwie arbeitsintensiven Komponenten. Man kann das zusätzlich einpreisen, muss aber die Schmerzgrenze in der Zahlungsbereitschaft der Abnehmer bedenken. Das erhöht letztlich die Personalkosten der Anbieter im Verhältnis zu den Einnahmen und reduziert die Spielräume für substanzielle Weiterentwicklungen. Gleichzeitig führt es dazu, dass sich die Mitarbeiter der Kunden in der Softwareumgebung einrichten, dort regelrecht Wurzeln schlagen.

Das wiederum erschwert den Wechsel zu anderen Lösungen. Solange der Softwareanbieter also einigermaßen mit der Zeit geht, die Benutzeroberfläche nur wie das vorletzte Windows aussieht und nicht wie 98, bleiben die Kunden treu. Zu umständlich wäre die Umstellung einer ganzen Rechtsabteilung oder Kanzleibelegschaft auf ein neues System. Zumal dafür ja ein attraktives Gegenmodell zur Auswahl stehen müsste, für dessen Entwicklung die meisten Softwareanbieter aus besagten Gründen ihrerseits keinen Anreiz haben.

Hinzukommt, dass der Entwicklungsaufwand für eine Komplettlösung so groß ist, dass kaum neue Alternativen die Markteintrittshürden überwinden. In dieses Bild passt, dass die unangefochtenen Marktführer für Kanzleiorganisationssoftware sich bereits in den 80er und 90er Jahren gründeten. In diese Zeit fallen die Anfänge von RAMicro, Lecare, Soldan und Wolters Kluwer, die heute die gängigen IT-Module bereitstellen.

Überangebot der Nischenlösungen

Welche Art von Legal Tech entwickelt also jemand, der 2018 erstmalig auf den B2B-Markt drängt? Richtig, eine schnell gebaute Nischenlösung für ein spezifisches Einzelproblem. Leider sind auch in diesem Bereich die Cash Cows schon weitgehend beansprucht. Die für die Due Diligence enorm relevante E-Discovery decken inzwischen in den USA Anbieter wie Ross Intelligence und in Deutschland Leverton ab. Dabei verfügen sie offenbar bereits über ausreichende Datenmengen, um kritische Klauseln mithilfe von AI zu erkennen. Gleichzeitig sind die Entwickler von Tools für einzelne Rechtsprobleme hier nicht stehen geblieben. Mittlerweile tummeln sich im B2B-Bereich gleichermaßen Anbieter für Vertragsgeneratoren, Bausätze für Prüfungsmechanismen in juristischen Standardfragen und Legal Chatbots.

So reizvoll solche Hilfsmittel jeweils sein mögen, so wenig greifbar sind die Einsatzgebiete, in denen Kanzleien und Rechtsabteilungen massenhaft derartige Tools für den regelmäßigen (!) Gebrauch benötigen. Ich bin mir zum Beispiel nicht sicher, wie nachhaltig und flächendeckend Sozietäten bereit sind, BRYTER für sein Bausatzsystem regelmäßig eine Lizenzgebühr zu zahlen, damit man für häufig auftretende rechtliche Einzelfragen ein handliches Prüfungsmodul erstellen kann. Mir scheint es so, als ob es zumindest für die meisten mittelständischen Kanzleien attraktiver ist, Legal Tech Entwickler wie die DiRiSo zielgerichtet mit der Anfertigung einzelner inhouse Tools zu beauftragen und einmalig zu bezahlen.

Und bei dem Ansatz von BRYTER sprechen wir noch von einem einigermaßen universell einsetzbarem System; unter den Neugründungen finden sich auch etliche Unternehmen, die wesentlich engere Nischen bearbeiten. Der große Wurf scheint jedenfalls nicht dabei zu sein. Eher ist zu befürchten, dass hier ein reichliches Angebot auf eine verhaltenere Nachfrage trifft.

Was fehlt Legal Tech 2018

Das beachtlichste an der gegenwärtigen Entwicklung ist allerdings das, wonach man vergeblich sucht: eine Idee, die den Markt regelrecht umkrempelt. Auch 20 Jahre nach dem Boom der New Economy und dem Aufbruch ins Internetzeitalter fehlt im Rechtsdienstleistungsbereich etwas vom Format Amazons, Googles, Teslas. Es gibt zwar inzwischen im angelsächsischen Raum etwas breit gefächertere Portale wie DoNotPay oder Legalzoom, die Angebote für eine Vielzahl von Einzelproblemen bündeln. Strukturell unterscheidet sich ihr Service aber nicht von dem, den hierzulande Legal Tech Unternehmen in etwas zersplitterterer Form leisten.

Das heißt, dass weiterhin nur für einen Bruchteil der Rechtsprobleme genuine Legal Tech Lösungen abrufbar sind. Wo immer der streitgegenständliche Sachverhalt oder die Rechtslage etwas komplexer ausfällt und sich Fälle nicht so leicht schematisieren lassen, scheitert Legal Tech 2018 weiterhin. Und das dürfte nach wie vor die allermeisten Rechtsfragen betreffen. Nicht weil sich das Recht einer Schematisierbarkeit entzieht, sondern schlichtweg weil vielerorts die geringe Fallzahl oder die niedrigen Streitwerte oder Schwierigkeiten der Beweisbarkeit in keinem wirtschaftlichen Verhältnis zur Entwicklung einer Legal Tech Anwendung stehen. Das beschränkt das Einsatzgebiet der Legal Technology vorerst auf Standardfragen und Massenverfahren.

Wie sich das ändern könnte, steht weiter in den Sternen. Man erahnt am Horizont zwar, dass eine ausgereifte künstliche Intelligenz von menschlichem Format (general AI) geeignet wäre, den menschlichen Anwalt umfassend zu ersetzen. Selbst die optimistischsten AI-Forscher gehen allerdings davon aus, dass wir von diesem Entwicklungsstadium künstlicher Intelligenz noch mindestens Jahrzehnte entfernt sind. Eine „Brückentechnologie“, die den Rechtsmarkt in der Zwischenzeit umkrempelt, zeichnet sich dagegen noch nicht ab. Aber erst wenn eine solche den Markt betritt, zieht die Rechtsdienstleistungsbranche wirklich mit dem E-Commerce und der Automobilindustrie und vielen anderen Sparten in Sachen Digitalisierung gleich. Für Gründer ist das allerdings eine gute Nachricht: So bleibt Legal Tech 2018 und darüber hinaus unverändert entwicklungsfähig.